„Sag, was Dich bewegt“ – Sprechen Sie es an! Nichts sagen ist meistens falsch!

Warum es so wichtig ist, Dinge beim Arztbesuch anzusprechen („Speak Up“)

Sie stellen fest, dass das Wartezimmer überfüllt ist, Abstände nicht eingehalten werden können – oder Sie bemerken, dass die Arzthelferin oder der Arzt seine Hände nicht desinfiziert hat, bevor er mit Ihnen in Kontakt kommt: Sprechen Sie die Situation an? Wer kennt diese Frage in solchen Situationen nicht: „Soll ich etwas sagen oder doch lieber schweigen?“ Viele Patienten haben solche oder ähnliche Situationen wahrscheinlich schon erlebt: sie sagen nichts. Dann bleibt aber ein mulmiges Gefühl, Verunsicherung und/oder Ärger zurück – und letztendlich Zweifel, ob es richtig war, zu schweigen. Und die klare Antwort gleich zu Beginn: Nein, es ist falsch in solchen Situationen zu schweigen. Es geht um Ihre Sicherheit und Gesundheit.

Warum ist es so wichtig, unmittelbar vor Ort „seine Bedenken zu äußern“, zu „sagen, was einen bewegt“, oft auch als „Speak Up“ bezeichnet?

Was bedeutet „Speak Up“?

„Speak Up“ bedeutet ins Deutsche übersetzt so viel wie „frei von der Leber weg zu reden“ bzw. „(Sicherheits)Bedenken unmittelbar offen, ehrlich und konstruktiv anzusprechen“.

Warum ist ein „Speak Up“ so wichtig für Ihre Sicherheit?

Alles was die Patientensicherheit gefährden könnte und zu akutem Handlungsbedarf führt, sollte angesprochen werden, denn es geht um Ihre Sicherheit: zum Beispiel Handhygiene während der Patientenvisite, das Tragen einer Schutzmaske, zu volle Wartezimmer in Corona Zeiten, fehlender Sicherheitsabstand etc. Jeder sollte sich grundsätzlich häufiger trauen, auf Gefahren, Unsicherheiten und Sicherheitsbedenken hinzuweisen – Sie als Patient, aber selbstverständlich auch das Gesundheitspersonal untereinander.
Ein „Speak Up“ kann schwerwiegende Fehler verhindern und somit oft auch Leben retten. Schätzungsweise sieben bis 23 Millionen Schadensfälle sind laut weltweiten Daten auf eine ungenügende Kommunikation in Praxen und Kliniken zurückzuführen.

Mit „Speak Up“ lässt sich die Gefahr von Fehlbehandlungen deutlich mindern. Denn wenn alle Beteiligten (das Gesundheitspersonal und Sie als Patient bzw. Angehöriger) mitdenken, wachsam für Unsicherheiten sind, rechtzeitig auf Gefahren hinweisen, können Risiken gemeinsam aus dem Wege geräumt werden, noch bevor sie zu einer potentiellen Schädigung und Beeinträchtigung der Sicherheit führen.

Die Wichtigkeit von „Sag, was Dich bewegt“ oder „Speak Up“ ist nicht nur für Sie als Patient wichtig. Sogar in der so sicheren Luftfahrt gehört das „Speak Up“ zu den wichtigen Trainingsinhalten für die Piloten und Crews. Und auch Krankenhausteams üben sich zunehmend darin, wichtige Dinge zu erwähnen und anzusprechen, auch wenn die Pflegekraft den Oberarzt anspricht. Studien zeigen, dass effektives „Speak Up“ in allen Hochsicherheitsbereichen die Sicherheit von Teams erhöht! Machen Sie auch mit..

Was bedeutet „Sagen, was einen bewegt“
oder „Speak Up“?

Es geht vor allem darum Ihre aufkommenden Zweifel, ob Sie sich als Patient sicher bzw. korrekt versorgt fühlen, wahrzunehmen, direkt anzusprechen und somit das Fachpersonal unmittelbar vor Ort freundlich und konstruktiv auf Ihre Bedenken aufmerksam zu machen. Sie unterstützen damit das Personal, ihre eigene Versorgung sicherer zu machen.

Das kann dann auch heißen, selbst wenn es der Chefarzt ist – daran zu erinnern, seine Hände vor der Patientenvisite zu desinfizieren oder eine Maske während Ihrer Untersuchung zu tragen. Oder Bedenken anzumelden, wenn Ihnen aktuell in der Coronazeit ein Wartezimmer zu voll erscheint bzw. keine ausreichenden Abstände eingehalten werden oder Ihnen eine Behandlung bzw. ein Test verwehrt wird.

Ziel von „Speak Up“ ist es also, Sie als Patienten vor Fehlern und unerwünschten Ereignissen zu schützen. Aber auch die Mitarbeiter im Gesundheitswesen werden so vor Fehlern geschützt. Denn kein Mitarbeiter möchte Fehler und Patientenschäden verursachen, alle wollen Patienten helfen. Passiert dann doch mal ein Fehler, leidet das Gesundheitspersonal auch nachhaltig mit. Durch Ihre konstruktiven Rückmeldungen können also Verbesserungen erreicht und neben Ihrer Patientensicherheit auch die MitarbeiterInnen-Sicherheit erhöht werden. Somit profitieren Patienten UND Beschäftigte im Gesundheitswesen!

Beispiel-Situationen die Sie immer ansprechen sollten:

  • Sie haben das Gefühl, dass jemand die Hände nicht desinfiziert hat und in Kontakt mit Ihnen kommen möchte
  • Jemand trägt keinen Mund-Nasen-Schutz, oder inkorrekt und kommt Ihnen näher als 1,5m
  • Ein Wartebereich ist so voll, dass kein Abstand gewahrt werden kann
  • Sie bekommen ein Medikament zum Einnehmen, das Sie nicht kennen, das bisher anders aussah, oder Sie nicht wissen, warum Sie das bekommen
  • Sie sollen zu einer Untersuchung, von der Sie nichts wussten
  • Sie werden mit falschem Namen angesprochen
  • Ihnen kommt etwas „komisch“ vor
    Sie haben andere Befürchtungen oder Bedenken

(Wichtig: Ihre Bedenken oder Befürchtungen können sich durchaus als falsch herausstellen, dennoch müssen Sie es ansprechen, um genau dies zu klären)

Warum kann „Speak Up“ schwerfallen?

Patienten und Angehörige haben oft Hemmungen Gesundheitspersonal auf mögliche Mängel oder Gefahren ihres Verhaltens hinzuweisen. Gründe für Schweigen können Angst vor der Reaktion der angesprochenen Person oder vor negativen Folgen für die weitere Behandlung sein, aber auch die Sorge die Person vor anderen bloßzustellen oder den richtigen Ton bzw. die richtigen Worte zu finden.

„Speak Up“ bezieht sich meistens auf eine ganz konkrete Situation und sofortiges Handeln ist notwendig. In kürzester Zeit müssen Sie also entscheiden, ob Sie Ihre Bedenken ansprechen oder nicht. Ggf. kommen Sie zu dem Entschluss, dass sich ein „Speak Up“ nicht lohnt. Da schon eine riskante Handlung negative Folgen für Sie haben kann, z.B. können Sie durch eine vergessene Desinfektion der Hände oder vergessene Maske eine Corona-Infektion bekommen, gilt: Sprechen Sie Ihre Bedenken lieber einmal zu viel als zu wenig an!

Wie sag ich es? Üben hilft bei der Anwendung

Grundannahmen:

  • Nur weil Sie auf einen Mangel oder eine Gefahr hinweisen, sind Sie nicht gegen die Person und zweifeln nicht an deren Kompetenz.
  • Das falsche Verhalten der Person beruht oft nicht aus Ignoranz oder Absicht, sondern hat oft menschliche Ursachen.
    Kritik kann sachlich und respektvoll formuliert werden.
  • Wichtig ist, dass das Gegenüber die Botschaft und Ihre Bedenken versteht. Hierzu ist es wichtig freundlich, konstruktiv und wertschätzend zu sein, gleichzeitig aber auch klar und deutlich im Inhalt. Grundsätzlich macht der Ton die Musik.

Beispiele für geeignete, effektive Formulierungen: 

  • „Entschuldigung, ich habe nicht gesehen, dass Sie sich die Hände desinfiziert haben, können Sie mir da helfen?
  • „Entschuldigung, Sie haben Ihren Mundschutz nicht an, ich mach mir Sorgen evtl. angesteckt zu werden…“
  • „Herr Doktor, eine Frage, das Medikament hier soll ich einnehmen – das hab ich bisher noch nicht genommen und weiß grad auch nicht wozu ich das nehmen soll?“
  • „Oh, Sie sagten gerade Frau Maier zu mir, ich bin aber Frau Obermüller. Könnten Sie mal schauen, nicht dass die Blutprobe dann auch falsch bezeichnet ist“
  • „Moment bitte, Sie sagten, ich solle noch zum Ultraschall der Niere. Das wurde bisher gar nicht besprochen und ich weiß auch gar nicht warum. Könnten Sie mir das erklären? Oder kann ich mit dem Arzt nochmal sprechen? Vielen Dank“

Folgende Kommunikationsregeln können Ihnen bei der Formulierung eines „Speak Up“ beispielsweise helfen:

  • Ich-Botschaften statt Du-Aussagen
    («Ich sehe hier folgendes Problem… Mir fällt auf, dass …»)
  • Besorgnis formulieren: es geht nicht um Kritik, sondern nur darum Gefahren rechtzeitig abzuwenden und Fehler zu vermeiden
    («Ich bin beunruhigt. Habe Sorge/Bedenken, dass …»)
  • Beschreiben, nicht bewerten
    («Für mich sieht es so aus, als ob … Ich habe bemerkt/beobachtet, dass …»)
  • Lösungen vorschlagen
    («Ich schlage vor, dass …» Wäre es eine Option, dass …?)
  • Einverständnis bzw. Sichtweise einholen
    («Was denken Sie?»)

Da die meisten „Speak Up“ Situationen eine schnelle Reaktion erfordern, ist es zu empfehlen, zunächst die eigenen Einstellungen zu hinterfragen:

  • Ist Ihnen bewusst, dass niemand „allwissend“ ist und absichtlich Fehler macht?
  • Ist Ihnen bewusst, dass es nicht um Kritik bzw. Nörgelei geht, sondern nur darum Gefahren rechtzeitig abzuwenden und Fehler zu vermeiden?
  • Sehen Sie konstruktive Rückmeldungen grundsätzlich als Chance, um daraus zu lernen?
  • Sind Sie überzeugt, dass man als Patient etwas bewirken kann und muss?
    Glauben Sie, dass es anderen Patienten auch so gehen könnte?

In einem weiteren Schritt können Sie sich nun vorstellen, wie Sie das nächste Mal in einer kritischen Situation z.B. in der Arztpraxis einen Hinweis formulieren möchten. Dazu können Sie auch nochmal die Beispiel oben im Textkasten anschauen. Mit dieser Vorbereitung können Sie in der nächsten kritischen Situation unmittelbar reagieren, ohne sich noch lange Formulierungen überlegen zu müssen. Das Gesundheitspersonal ist wahrscheinlich sehr dankbar und froh, wenn man sie vor Fehlern bewahrt, die ggf. Patienten schädigen könnten.

Wie kann ich Sicherheitsbedenken auch nachträglich noch übermitteln?

Sollte es in einer Situation mal besonders schnell gehen oder sollten Sie es doch verpasst haben Ihre Bedenken direkt vor Ort anzusprechen, dann ist es auf jeden Fall empfehlenswert, dies nachzuholen und die Sache zu klären. Auch im Nachhinein kann noch vieles angesprochen oder zurückgemeldet werden. In Krankenhäusern gibt es hierzu beispielsweise meistens ein zentrales Beschwerdemanagement (oftmals der Abteilung Qualitäts- und Risikomanagement zugeordnet), an das Sie sich telefonisch oder online wenden können. Insbesondere aktuell in der Corona Zeit ist es sehr wichtig, dass Sie sich z.B. bei Verweigerung einer Behandlung durch eine Einrichtung oder wenn Sie sich bezüglich Ihrer Beschwerden nicht ernst genommen fühlen, nochmals an Ihren Haus- oder Facharzt wenden und eine direkte Rückmeldung ggf. an das Krankenhaus geben. Bleiben Sie hartnäckig! Sollte Ihnen keiner weiterhelfen wollen, können Sie sich auch an die Experten für Medizinrecht bei der Techniker Krankenkasse unter folgender Rufnummer wenden: 040 – 460 66 12 – 14 Unser Expertenteam berät Sie gern. Montag – Donnerstag 8 – 18 Uhr, am Freitag 8 – 16 Uhr. Oder wenden Sie sich an die Beschwerdestellen der Ärztekammern.

 

Quellen

Bienefeld, N., & Grote, G. (2012). Silence that may kill: when aircrew members don’t speak up and why. Aviation Psychology and Applied Human Factors, 2(1), 1–10. doi:10.1027/2192-0923/a000021.

Kolbe, M., Grande, B. „Speaking Up“ statt tödlichem Schweigen im Krankenhaus. Gr Interakt Org 47, 299–311 (2016). https://doi.org/10.1007/s11612-016-0343-5

Kolbe, M., & Grande, B. (2016). Speak Up. Wenn Schweigen gefährlich ist. In D. Schwappach & K. Gehring (Hrsg.), Sag ich’s oder sag ich’s lieber nicht’ – unser alltägliches Speaking-Up-Dilemma (S. 13–19). Zürich: Stiftung für Patientensicherheit.

Kolbe, M., Burtscher, M. J., Wacker, J., Grande, B., Nohynkova, R., Manser, T., Spahn, D., & Grote, G. (2012). Speaking-up is related to better team performance in simulated anesthesia inductions: an observational study. Anesthesia & Analgesia, 115, 1099–1108. doi:10.1213/ANE.0b013e318269cd32.

Susanne Werner: Therapiesicherheit. Dem Chefarzt auch widersprechen können. In: Ärztezeitung Dezember 2017

David Schwappach, Lynn Häsler, Susanne Peter: Speak Up verbessert die Patientensicherheit. In: pflegen: palliativ 39 | 2018

David Schwappach: SPEAK UP – ZUM WOHLE DER PATIENTEN. In: OTXWORLD | Nr.156 | Dezember 2018

Autoren: Dr. med. Marcus Rall und Dr. phil. Saskia Huckels-Baumgart, InPASS